Warum ich es okay finde in Unterwäsche durchs digitale Zuhause zu laufen

Das Phänomen Tabu am Beispiel von Frauen in Unterwäsche © Luisa Sancelean

Wie
tabu kann eine Frau in Unterwäsche sein?

Das habe ich mich gefragt, als ich die entrüsteten Reaktionen bemerkt habe, die Fotos auf Instagram von Frauen in Dessous auslösen können. Dabei spreche ich hier nicht von lüsternen Darstellungen, Fotos mit erotischen Ambitionen, Inhalten von Minderjährigen oder Beiträgen auf denen Frauen sexuell objektifiziert werden. Erst recht nicht von pornografischen Inhalten, die von Instagram sowieso im besten Fall blockiert werden. Ich rede von ganz normalen, ästhetischen und alltäglichen Outfit- oder Mood-Bildern, wie wir sie jeden Tag tausendfach auf Instagram sehen – nur eben mit einem schönen BH bekleidet und nicht dem neusten Levis T-Shirt. 

Egal ob Influencerin, Model, Kollegin oder Mädchen von nebenan –  immer mehr Frauen zeigen sich auch in Unterwäsche auf Instagram oder Blogs. Warum auch nicht? Doch immer noch macht sich große Empörung darüber breit. So müssen sich viele Bloggerinnen in endlosen Kommentarschleifen dafür rechtfertigen und beleidigen lassen. Ich lese ironisch Bildunterschriften, wie: „O M G …she’s showing off her bra on Instagram“, weil diese Frauen ganz genau wissen, was sie jetzt gleich wieder erwartete. Wieso macht sich immer noch so viel Empörung breit, obwohl wir uns jeden Tag durch hunderte Bilder von Menschen scrollen, die sich in ihrem #ootd präsentieren. Was ist so anders an einer Fashionbloggerin in Netz-Shirt und einer im BH?  Wieso kramen manche beim Anblick dieser Bilder immer noch Gefühle aus dem 19. Jahrhundert hervor?

Als Werbung okay, aber privat ein No-Go?

Als Content-Managerin in einem Lingerie-Unternehmen sehe ich natürlich jeden Tag hunderte Fotos von Frauen in Unterwäsche. Die Models darauf entsprechen dem gängigen Schönheitsideal. An diesen Hochglanzbildern, welche großflächig an die Wände der Metro gekleistert werden reibt sich keiner auf. Da Marketing heutzutage nicht mehr nur über Fernsehen und Printwerbung, sondern auch über soziale Medien läuft sehen wir die Produkte aber auch an Influencerinnen oder Kundinnen, die auf ihrem Feed die neue Errungenschaft stolz präsentieren. Der laute Ruf nach Authentizität hat diese Entwicklung angeschubst. Wieso verstummt er, wenn es um Frauen, wie dich und mich geht, die sich in ihren neuen Dessous präsentieren wollen?

Zeig dich selbstsicher im Job, aber bitte nicht im eigenen Körper

Bleiben wir bei den Models auf den Werbetafeln. Das große Umdenken hat schon längst begonnen. Zwar sehen wir noch immer laszive Damen mit perfekten Maßen an jeder Ecke, aber mittlerweile gibt es ebenso viele Marken, die ein neues Frauenbild proklamieren. Die Models dieser Kampagnen stehen für Vielfalt in Alter und Schönheit und sollen dazu beitragen, dass sich die Betrachterinnen mit diesem Anblick identifizieren können. Es geht nicht darum Dessous zu kaufen, um für das Gegenüber verführerisch zu sein, sondern um sich selbst darin wohl zu fühlen.

Diese neue Sicht der Dinge ist noch blutjung, aber wird in Zukunft oberste Maxime sein. Wir wollen Frauen, wie wir sie jeden Tag auf der Straße sehen. Aber warum dürfen sich diese echten Frauen nicht auch so freizügig öffentlich zeigen? Leben wir dann nicht wieder ein Bild vor, welches nicht der Realität beziehungsweise nur einer Realität unter zugeknöpften Blusen entspricht? Wir wollen weg vom sexy Angel à la Victoria‘s Secret, aber ertragen trotzdem keine Natürlichkeit? Dass die Welt anscheinenden noch nicht so weit ist, zeigt sich mir häufig im von mir betreuten Marken-Feed auf Instagram. Frauen mit perfekten Maßen bekommen die komplette Dröhnung Fame, Frauen mit weiblichen Kurven und in denselben Dessous erhalten direkt nur die Hälfte an Likes. War das die Nachricht der Schwarmintelligenz an mich, dass Frauen über 60 Kilo nicht erwünscht sind?

Tragen Fashionbloggerinnen keine BHs?

Auch in der Community und unter Bloggern sehe ich immer mehr, dass Frauen sich als Teil ihres Lifestyles in Unterwäsche ablichten lasse. Allerdings frage ich mich, wieso diese Entwicklung so lange hat auf sich warten lassen. Vielleicht, weil die widersprüchlichen Reaktionen auch hier zu sehen sind. Fashionbloggerinnen, die sich in Unterwäsche präsentieren, haben entweder die gleichen Maße, wie die Models in der Werbung und werden deshalb gehypt oder sie müssen sich beleidigende Kommentare anhören, weil sie es wagen „mit ihrer Figur“ (whatever the f*** this is) Dekolleté zu zeigen. Haben sich Influencerinnen bisher zurück gehalten, um dem Stigma zu entkommen und weil sie sich mit Täschchen und Kleidchen auf der sicheren Seite wiegen? Oder gehören Dessous etwa nicht in die Bekleidungsindustrie und sind kein Teil der Mode?

Das Phänomen Tabu am Beispiel von Frauen in Unterwäsche

#Femaleempowerment  ja, aber nein, aber ja

Die Zeiten des Female Empowerments haben auch eine große Anzahl an inspirierenden Projekten hervorgerufen. So zum Beispiel das All Woman Project oder StyleLikeU – The What´s Underneath Project. Zweiteres wurde als „Revolution der Selbstakzeptanz“ von Elisa Goodkind und ihre Tochter Lily Mandelbaum 2009 ins Leben gerufen. Auf ihrem Youtube-Kanal findet man eine Doku-Serie, welche die unterschiedlichsten Frauen und ihre verschiedensten Erfahrungen portraitiert. Jede von ihnen erzählt ihre persönliche Geschichte während sie sich bis auf die Unterwäsche entkleidet. Diese Videos machen einem bewusst, dass jeder mit Unsicherheiten zu kämpfen hat und sie lenken den eigenen Blick weg von sich selbst hin zu diesen inspirierenden Frauen. Auf ihrer Website schreibt die Gründerin Lily Mandelbaum: „Self-acceptance isn’t about having it all figured out, but it’s about having the guts to admit that you (like everybody else) are a continual work in progress.“ Ganz normale Frauen, aber auch bekannte Persönlichkeiten zeigen sich hier vor der Kamera – am Ende in Unterwäsche und es gibt nichts Schockierendes oder Empörendes daran.

Spätestens solche Projekte führen uns Frauen zu der Erkenntnis, dass wir selbstbewusst in unserem eigenen Körper auftreten können. Die logische Konsequenz daraus ist für mich, dass wir unseren Körper nicht sexualisiert betrachten und so nicht betrachtet werden wollen. Wenn sich also jemand in den sozialen Medien, unseren kleinen vier digitalen Wänden, dazu entscheidet, sich in Unterwäsche zu zeigen, dann sollte doch auch das als normal angesehen werden und nicht die Sittenpolizei auf den Plan rufen.

Tabu or not tabu?

Es gibt natürliche Orte, an denen sind knappe Oberbekleidung und Slip wieder absolut genehm: Urlaubsstrände und Hallenbäder gehören da genauso dazu,  wie die Wiese am Badesee. Oben ohne und Rio-Slip sind absolut legitim, wenn es darum geht sich großflächig bräunen zu lassen. Warum fühlt es sich für den Empörer an diesen Plätzen plötzlich nicht mehr komisch an so viel nackte Haut zu sehen? Weil sie da hin gehört und auf den Instagram-Feed eben nicht? Das Gegenargument lautet an dieser Stelle oftmals: Aber am Strand begegnest du nicht deinem Chef. Ach ist das so? In einer Großstadt wie Berlin ist es meiner Meinung nach sogar wahrscheinlicher den Chef in der Sauna vom Badeschiff zu treffen oder dem Kollegen mit illegalen Substanzen in der Nase auf der Tanzfläche. (Mittlerweile züchten manche Unternehmen so ein obskures Mitarbeiter-Verhältnis heran, dass man auch darüber mal einen Beitrag schreiben könnte.) Aber was soll’s? Auch wenn ich am nächsten Tag wieder in Bluse ins Büro laufe, ich hab mich nicht nackt gezeigt, sondern nur so knapp bekleidet, wie bei 36 Grad Außentemperatur.

Ich streite nicht ab, dass es genügend Menschen gibt, die zweimal darüber nachdenken sollten, wie sie sich öffentlich präsentieren können, aber diese müssen sich ja auch nicht entblößen. Es geht ja nicht darum die Allgemeinheit dazu zu bringen, sich von nun an immer und überall offenherzig zu zeigen, weil es en vogue ist. Es soll auch nicht darum gehen sich für mehr Selbstbestimmtheit auszuziehen. Es geht darum, Menschen nicht zu verurteilen, die einen gelösteren Umgang mit ihrer öffentlichen Darstellung pflegen. Zum Glück gibt es in unserer aufgeklärten Gesellschaft aber mittlerweile auch schon zahlreiche Mitmenschen, denen es völlig egal ist, wenn sie so etwas zu Gesicht bekommen.

In diesem Zuge stellt sich mir nun auch die Frage, was denn so schockierend am Anblick einer Frau in Unterwäsche ist? Ist es anstößig, dass man die Brüste dadurch besser erahnen kann, als unter einer zugeknöpften Bluse? Ist der freie Blick auf den Bauchnabel zu intim? Sind Oberschenkel eine so private Angelegenheit? Wer das auch nicht so recht beantworten kann, aber trotzdem dagegen halten will, der hat vielleicht ein anderes Totschlagargumente. So wie dieses hier: „Das habe ich nicht nötig“. Ja, ich auch nicht – darum geht es ja auch nicht. Aktiv an einer Fotocommunity teilzuhaben ist nichts, was man nötig hat, was die Welt rettet oder dich in die Hölle bringt. Für mich und vermutlich die meisten Nutzer ist es eine Kreativplattform. Und wie ist es mit der digitalen Visitenkarte? Wieder gilt: Wer mal Bundeskanzlerin werden will, der sollte vielleicht weiterhin nur im Blazer posieren, aber ich hab das für meine Zukunft nicht vorgesehen.

Das alles heißt natürlich nicht, dass ich abstreite, dass Instagram auch eine Bühne für Narzissmus sein kann. Klar nutzen viele Userinnen ihre weiblichen Kurven, um die Erotik-Karte auszuspielen und damit Aufmerksamkeit und Follower zu gewinnen. Hierbei handelt es sich definitiv um Kalkül und die Botschaft wird wahrscheinlich von den meisten Betrachtern eindeutig entschlüsselt. So what? Auch das muss es geben – solange Instagram keinen Grund zur Zensur hat.

Auch die Bibel ist an manchen Stellen ziemlich kinky und so einige religiösen Motive kennen ebenso kein Halten. Und wie ist es mit der Sofortbildkamera von Polaroid, welche als „Swinger“ vermarktet wurde – eine kleine Kamera, die schlüpfrige Bilder direkt auswirft, ohne dass man sie von fremden Menschen entwickeln lassen musste. Damit wurde der Grundstein der Do-It-Yourself-Pornografie gelegt, welche wir heute in den Instagram Feeds wiederfinden. Sexualisierte Halb-Nacktbilder und die Laienfotografie gehen also Hand in Hand.

Nun liegt es am Betrachter die kleinen, aber feinen Unterschiede zu sehen und zu differenzieren. Wenn nackte Haut auf einem Instagram-Feed dominiert,  dann kann es sein, dass mit erotisierenden Bildern Aufsehen erreget werden soll. Es kann aber auch genauso gut sein, dass es sich nur um einen Kanal handelt, der das Selbstbewusstsein einer Frau wiederspiegelt. Sich stolz in Dessous vor die Kamera zu stellen sollte genauso akzeptiert sein, wie Gugelhupf zu backen oder den Tulpenstrauß vors Gesicht zu halten. Unsere Nutzung von Instagram hat hervorgebracht, dass es nicht nur bei bezahlten Influencern darum geht, Produkte in den sozialen Kanälen anzupreisen und zu bewerten. Die neue vegane Handcreme, der Fairtrade-Kaffee aus Ruanda, die neuen Schuhe für den Sommer – wieso kann ich nicht vom Kauf eines neuen BHs erzählen, der mir vielleicht nach leidgeplagten Jahren den erwünschten Komfort gebracht hat und wovon ich jetzt berichten möchte, damit andere interessierte Nutzer dieses Produkt vielleicht auch ausprobieren können. So funktioniert doch Instagram ein Stück weit, oder nicht? Klar könnte man jetzt ein dezentes Still Life erstellen, aber warum? Wieso darf ich mein neues Kleid am Leib zur Schau stellen, aber nicht das neue Dessous? Wieso soll ich ein Produkt, bei dem es um den Fit geht flach auf den Boden klatschen, wodurch keiner eine Ahnung davon bekommt, wie er sitzt und wirkt. Und ihr könnt mir glauben, es ist nicht so einfach hauchzarte Spitze und Satinträger so zu drapieren, dass es formschön aussieht.

Das Phänomen Tabu am Beispiel von Frauen in Unterwäsche

Klar ist es witzig, wenn manche Influencerinnen ihren ganzen Alltag in Lingerie bestreiten und nichts als Unterwäsche tragen, wenn sie am Laptop sitzen, Yoga machen, die Blumen gießen oder Bilder an die Wand nageln. Ich kann es mir zwar auch nicht wirklich erklären, aber vielleicht sind deren Wohnungen besonders stark beheizt. Ich kann mir aber ebenso wenig rücklings am Handgelenk hängende Markenuhren oder Blumensträuße auf dem Bett erklären. Klar sind diese Bilder genauso inszeniert, wie Frauen, die nur mal ihren neuen Bralette präsentieren wollen oder Mädchen, die zufrieden mit sich sind und das auch zeigen wollen.

Und wenn es dann doch nur Bilder mit erotischen Absichten sind, die nur der Selbstdarstellung dienen? Das ist möglich, aber will man diese Tatsache einfach jedem pauschal unterstellen, der Unterwäsche nicht als eindeutigen Beweis der Sittenlosigkeit bewertet? Jeder ist natürlich dazu eingeladen sich seine eigene Meinung darüber zu bilden und ich bin auch ganz bei euch, wenn es darum geht den guten Geschmack nicht zu verfehlen. Ich glaube aber, dass manche Menschen zweimal darüber nachdenken sollten, warum sie an bestimmten Bildern angeeckt sind. Vielleicht ist doch eigentlich gar nichts dabei? Lasst uns gern den Maßstab des ästhetischen Empfindens ansetzen, aber nicht die Moralkeule schwingen!

Das Phänomen Tabu am Beispiel von Frauen in Unterwäsche

Ich persönlich sehe Lingerie als Modestück und Teil meines Lifestyles. Ich bin überzeugt von den Produkten, die ich zeige und von der Arbeit, die wir in unserem Unternehmen leisten, sowie der Message, die dahinter steht. Wer das mit anderen Augen sieht, dem sei sein kreativer Interpretationsspielraum gegönnt. Ein Teil von mir möchte euch sagen, macht euch mal locker und kommt im 21. Jahrhundert an, denn es ist absolut nichts dabei über Unterwäsche zu reden oder sie zu präsentieren oder einfach nur ein tiefes Dekolleté zu haben. Aber so einfach ist das anscheinend nicht und auch ich kann nur Spekulationen darüber anstellen, warum es ein Tabu ist. Wer bei harmlosen Unterwäsche-Bildern in Stockatmung gerät, der ist vielleicht einfach konservativ, jenseits der 40, Helikopter-Mutter, ein Westfale, der am Kaffeetisch von „Ossis“ an FKK-Stränden erzählt oder jemand, der noch dringend Nachholbedarf in Sachen Aufklärung hat. In jedem Fall scheint mir die Community in dieser Angelegenheit noch schwer gespalten zu sein und vielleicht rege ich mich irgendwann auf, wenn mein Kind sich in Unterwäsche im Livestream räkelt, aber bis dahin ist unsere Gesellschaft vermutlich sowieso schon wieder generalüberholt.

 

Tabus sind finstere Löcher, die ab und an ordentlich gelüftet gehören. Gern auch mit Zügen von Sarkasmus oder zumindest einem Hauch von Ironie. (Peter Rudl)

 

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